"Dann trifft es am Ende den Pflegebedürftigen": Bewohnern droht wegen Engpässen in Ämtern Rauswurf aus Pflegeheimen

Nach einer bundesweiten Umfrage brauchen Sozialämter Monate, in Extremfällen sogar Jahre, bis Anträge auf „Hilfe zur Pflege“ entschieden werden. Auch die Pflegeheime leiden darunter und müssen Konsequenzen ziehen.
Das ARD-Politikmagazin Report Mainz hatte bundesweit 478 Sozialämter angeschrieben. 113 von ihnen haben sich konkret zu den Bearbeitungszeiten geäußert. Rund 27 Prozent von ihnen gaben an, dass diese von mehr als sechs Monaten bis hin zu einem Jahr dauern können. In fast fünf Prozent der antwortenden Sozialämter dauern die Bearbeitungszeiten teilweise weit mehr als zwölf Monate.
Besonders gravierend ist die Situation in Berlin-Pankow. Dort müssen Antragsteller „manchmal zwei oder drei Jahre warten“. In Wilhelmshaven zum Beispiel betragen die Bearbeitungszeiten in „23 % der Fälle“ mehr als ein Jahr, im baden-württembergischen Tuttlingen „aktuell rund 12 Monate“ und im Landkreis Wittenberg „teilweise über ein Jahr“.
Die Alterswissenschaftlerin Prof. Tanja Segmüller von der Hochschule Bochum sieht die langen Wartezeiten kritisch. „Die Menschen brauchen kurzfristig eine Versorgung. Es wäre in Ordnung, wenn es wenige Wochen dauert. Aber Bearbeitungszeiten von einem halben Jahr oder bis zu einem Jahr sind unmöglich“, so Segmüller im Interview mit Report Mainz.
Im Sozialamt des Berliner Bezirks Steglitz-Zehlendorf beträgt die mittlere Bearbeitungszeit fast ein Jahr. Im Interview mit Report Mainz erläutert Gruppenleiter Heinz Sonnenschein die Gründe: „Wir arbeiten aktuell immer noch mit Papierakten. Alle Post wird in Papier zu uns geschickt. Wir drucken das aus und arbeiten alles in Papierform ab“.
Der zuständige Bezirksstadtrat, Tim Richter, beklagt außerdem eine „hohe Mitarbeiterfluktuation“ im Sozialamt, „fehlende Unterlagen“, „zeitintensive Vermögensprüfungen“ und ein „anhaltend steigendes Antragsvolumen“. Aktuell gibt es in Steglitz-Zehlendorf 360 unbearbeitete Anträge. Mit den Bearbeitungszeiten bei „Hilfe zur Pflege“ ist der Bezirksstadtrat nicht zufrieden. „Ich arbeite mit viel Kraft daran, dass wir schneller werden, dass wir digitaler werden. Ich möchte mich aber nicht aus dem Fenster lehnen, dass das morgen der Fall ist“, so Richter gegenüber Report Mainz.
Der Präsident des größten privaten Pflegeverbandes in Deutschland (bpa), Bernd Meurer, fordert schnelle Lösungen. Er beklagt, dass viele Heime durch ausbleibende Zahlungen der Sozialämter unter Druck kämen: „Eine Bearbeitungszeit von neun Monaten bedeutet im konkreten Fall, dass neun Monate die Gelder fehlen, um das Personal zu bezahlen und dass ich das als Einrichtungsträger vorfinanzieren muss“, so Meurer.
Deshalb müssten Heime Konsequenzen ziehen. „Das Heim muss unter Umständen damit drohen oder auch eine Kündigung aussprechen, um gegenüber den Sozialämtern und auch den Angehörigen mal deutlich zu machen, es ist uns bitterernst, der Antrag muss bearbeitet werden“, sagte der bpa-Präsident im Interview mit Report Mainz. Die Altersforscherin Tanja Segmüller kann diese Argumentation nachvollziehen. Der Staat müsse Sorge dafür tragen, dass Menschen einen Heimplatz bekommen und den auch behalten können. „Wenn staatliche Leistungen über Monate oder Jahre nicht gezahlt werden, dann trifft es am Ende den Pflegebedürftigen“, so Segmüller. Und der stehe dann im Zweifel auf der Straße.
Ende 2023 war laut Bundesgesundheitsministerium rund jeder dritte Heimbewohner auf „Hilfe zur Pflege“ angewiesen. Deshalb schlägt die neue Bundesregierung im Koalitionsvertrag eine „Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile“, vor. Eine Arbeitsgruppe soll das prüfen. Ziel ist es, die Zahl der Sozialhilfeempfänger zu senken.
Altersforscherin Segmüller hält das für Wunschdenken: „Tatsächlich sehe ich keine Begrenzung, sondern eher eine Ausweitung des Eigenanteils. Die Kosten in der Pflegeversicherung steigen, der Pflegebedarf in der Bevölkerung wächst, und Menschen brauchen eine Pflegeversorgung. Das bedeutet, dass auf jeden Fall weitere Einnahmen generiert werden müssen, die diese Kosten decken“.
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